Mittwoch, 22. April 2009

Schwester (2)

Als Anka vor drei Jahren ins Krankenhaus eingeliefert wurde, feierte ich gerade in Hamburg meine Beförderung bei einer großen überregionalen Zeitung. Ich war 29 und auf steilem Weg Richtung Spitze.
Am Anfang versuchte ich es mit Pendeln, aber nachdem meine geliebte Mutter Anka in ein Pflegeheim abgeschoben hatte, ohne auch nur den Versuch zu wagen, sich selbst um sie zu kümmern, kündigte ich kurzerhand meinen hoch bezahlten Job und zog zurück in die Provinz.
Weniger als drei Monate schaffte ich es, mich um Anka zu kümmern, bevor ich aufgab und einsehen musste, dass ich es einfach nicht schaffen würde, dass ich sie zurück ins Pflegeheim geben müsste, wenn wir beide nicht verhungern und völlig verwahrlosen wollten.
„Ich wette, morgen gibt es Fisch mit Kartoffelsalat.“
Wir sind inzwischen im Park angekommen.
„Freitag: Fisch mit Kartoffelsalat. Freitag.“
„Du hast mich durchschaut“, lache ich.
Wir setzen uns auf eine Bank, gegenüber dem Brunnen, in dem das letzte Mal Wasser gewesen ist, als ich zwölf war.
Ich hole den Roman vor, den wir gerade durchgehen und lese ihr laut vor. Ich bin sicher, dass Anka der Handlung nicht folgen kann, aber sie strahlt von innen, also lese ich jeden Abend eine Stunde vor.
Auf dem Heimweg halte ich beim Pizzaexpress. Mario begrüßt mich mit einem „Ciao Bella!“. Wahrscheinlich begrüßt er jede Frau so, aber ich fühle mich geschmeichelt und er rückt eine Salamipizza mit Champignons raus, weil sein Fahrer noch nicht wieder da ist. Ich lege die Schachtel in meinen Fahrradkorb und verabschiede mich mit einem Luftkuss, den Mario mit übertriebener Geste auffängt und gegen sein Herz presst.
Zuhause verzichte ich auch auf die Abenddusche und kuschle mich in T-Shirt und ausgeleierten Boxershorts zusammen mit meiner Pizza und meinem Kater ins Bett.

Montag, 20. April 2009

Schwester

Punkt sechs fahre ich meinen Computer runter und schnappe mir meine Lederjacke. Die Fußgängerzone ist ausgestorben wie immer, nur im Drogeriemarkt gegenüber schlendern noch ein paar Kunden durch die Gänge. Mit dem Rad fahre ich zum Pflegeheim in der Bismarckstraße.
Ich schlucke kurz, bevor ich die Tür öffne. Anka liegt im Bett, die Decke trotz der Hitze bis zum Kinn gezogen. Wie immer plärrt der Fernseher.
„Hallo Butterblume.“ Ich drehe den Ton ab und schiebe Anka ein Kissen in den Rücken.
„Na, was gab es heute zum Mittag?“
Seit einem Autounfall vor drei Jahren ist meine große Schwester gelähmt und auf dem geistigen Niveau einer Fünfjährigen. Ein Auto hatte sie angefahren und der Fahrer ließ sie in dem Graben, in den sie mit dem Fahrrad gerutscht war, liegen. Ihr Gehirn war viel zu lange ohne Sauerstoff und als sie nach vier Wochen im Koma aufwachte, konnte sie auch nicht mehr laufen.
Das Mittagessen war neben den Simpsons Ankas Tageshighlight. Zwischen sechs und sieben durfte niemand ihr Zimmer betreten, wenn er nicht mit Haarbürsten und Trinkbechern bombardiert werden wollte.
„Blumenkohl. Blu-men-kohl. Lecker.“
Anka liebt jedes Essen. Eigentlich hätte sie längst einhundert Kilo wiegen müssen. Doch sie ist sogar schlanker als ich. Noch immer der perfekte große Schwester.
Ich klingele nach einem Pfleger, der mir helfen soll, sie in ihren Rollstuhl zu setzen. Er erinnert mich noch halbherzig an die Nachtruhe, weiß aber genau, dass das längst überflüssig ist. Ich bin mindestens vier Abende pro Woche bei Anka, sie ist mein gesamter Freundeskreis und mein einziges Privatleben.

Freitag, 17. April 2009

Montag

Es war der erste Tag der Sommerferien und ich hatte verschlafen, weil mich nicht das übliche Kindergeschrei vom Schulhof gegenüber geweckt hatte. Ich fluchte vor mich hin, weil ich im Wäscheberg keine passenden Socken finden konnte und fingerte Jeans und eine rote Bluse heraus, die vollkommen zerknittert war, was mir vollkommen egal war. Nur mit Zähne putzen und Katzenwäsche schaffte ich es in weniger als sieben Minuten vor die Tür.
Ich schwang mich auf mein Rad und fuhr den üblichen Weg an der Schule und der Flora-Apotheke vorbei zur Zeitung. Ich bin Redakteurin und seit drei Jahren beschäftigt mit Gartenvereinsfesten und großen Reportagen über den Bauhaushalt meiner Heimatstadt.
Als ich durch die gläserne Empfangshalle der Anzeigenverkaufsstelle nach oben stürmte, konnte ich Sarah schon am Gesichtsausdruck ablesen, dass dem Walross meine Verspätung nicht entgangen war. Kaum hatte ich den Computer mit der Schuhspitze angeschaltet, brüllte er auch schon in voller Lautstärke nach mir.
„Missy!“
Ich heiße Kaja, doch der Redaktionsleiter betitelte sämtliche Frauen der Redaktion mit „Missy“.
„Der kleine Scheißer ist in den Sommerferien Vollzeit da. Du hast die Ehre, ihr seid ja sowieso das Dreamteam.“
„Der kleine Scheißer“ ist Fotopraktikant, Marcus war eines Tages mit Arbeitsproben hier aufgetaucht und weil er wusste, wie man einen Auslöser betätigt und fast nichts kostet, arbeitete ich jetzt schon seit über sieben Monaten mit ihm.
„Hopp, hopp“ - meine Audienz war beendet.

Donnerstag, 2. April 2009

[s/w] 2

Jenseits von Hölle und Himmel
würde man sich in den Armen liegen
und schreien
wenn sie wüssten wovon

Figuren (1)

Er reibt sich die Hände. Immer reibt er seine Hände, statt sie in die Hosentaschen zu stecken, wie fast jeder normale Mensch. Nicht die Handflächen, die Außenseiten scheuern aneinander und weiße und brauen Bröckchen rieseln zur Erde und es sieht so ekelerregend aus, dass man ihm nie wieder die Hand schütteln oder irgendetwas entgegennehmen möchte, was sie reichen. Er reibt und reibt und es macht ein Geräusch wie ein Betonmischer in dem zuviel Sand ist.

Mittwoch, 1. April 2009

Empfehlungen

Ich frage mich, warum mir Amazon seit Wochen stur "Hochzeit: Alles für den schönsten Tag" und "Bestseller Baby" anbietet. Da hilft auch alles 'besuchte Seiten' löschen nichts.
Ich bin gereizt.
Nicht schwanger.

Titelseite

Bis zum Büro sprechen wir kein Wort. Von meinem Schreibtisch aus rufe ich die Pressestelle der Polizei an, um an weitere Details zu kommen. Mein Onkel Bernhard ist seit über 15 Jahren Pressesprecher der Polizei, allerdings hatten wir bisher noch nie beruflich miteinander zu tun. Für goldene Hochzeiten und Vereinsjubiläen braucht man selten Informationen der Polizei.
Marcus hockt auf der Fensterbank und hört zu, auch das Walross bewegt sich aus seinem Revier und drückt die Lautsprechertaste meines Telefons. Er wirft mir böse Blicke zu, weil ich mit meinem Onkel Höflichkeiten austausche, statt ihn direkt zu dem Mädchen zu befragen.
„Ich habe gehört, du warst dabei“ lenkt Bernhard schließlich von selbst auf das Thema.
„Zufall. Ich dachte, ihr hättet wieder Fässer aus dem Rohrleitungswerk gefunden.“
„Schön wär’s. Ich hab keine Ahnung, wie ich mit so einer Sache umgehen soll. Wir sind hier eine Kleinstadt. Mensch Kaja, eine nackte, mit Rosen verzierte Frauenleiche, was soll ich denn bitte in die Presseerklärung schreiben? Das gibt noch eine größere Katastrophe als der Brand im Obdachlosenheim und du weißt, was hier wochenlang los war. Die Kollegen im zweiten Stock drehen völlig durch.“
„Das heißt, du weißt auch nichts weiter?“
Bernhard schnaubte. „Wir haben eine Vermisstenanzeige. Vor drei Tagen ist ein junges Mädchen ist vor drei Tagen nicht nach Hause gekommen. Aber das ist inoffiziell. Ich kann dir eine Email mit dem Namen schreiben, sobald wir eine Bestätigung haben. Mehr gibt es nicht.“
Ich bedanke mich und lege auf. Das Walross steht nach wie vor neben mir und schaut grimmig.
„Alles klar Falke. Du schreibst den Artikel. Nimm ein Foto, bei dem die Leser nicht die Zeitung vollkotzen müssen. In einer Stunde habe ich einen Entwurf auf meinem Schreibtisch. Wenn du Mist verzapfst, gebe ich die Geschichte an Meyers. Klar?“
„Klar.“
Die Titelseite! Ich weiß nicht, ob ich glücklich sein soll oder entsetzt über die Umstände, denen ich meine große Chance verdanke.
Doch zum Nachdenken bleibt keine Zeit und so versuche ich, die wenigen Informationen, die ich habe, so professionell wie möglich aufzuarbeiten.

Dienstag, 31. März 2009

[s/w] 1

Ich produziere ziemlich viel
das Leben ist trotzdem nicht gerecht
und was am Ende übrig bleibt
ist nicht weniger als x+0

Montag, 30. März 2009

Findung

Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich sie wunderschön finde. Ihr Körper ist über und über mit dunkelroten Rosenblütenblättern bedeckt, nur an wenigen Stellen, wo der Fluss den Klebstoff abgespült hat, blitzt weiße Haut hervor. Es gelingt mir kaum, den Gedanken abzuschütteln.
Der junge Streifenpolizist hat seine Fassung wieder gewonnen und kommt auf mich zu.
„Wer ist das?“ Ich kann nur flüstern und weiß, dass ich alles andere als professionell bin. Er starrt mich an, die Nase feuerrot, bringt aber kein Wort heraus.
„Sie müssen gehen“ schafft er nach mehrmaligem Räuspern endlich zu sagen.
„Sie müssen gehen, bitte.“
„Wer ist das?“ frage ich noch einmal, doch er schüttelt nur noch den Kopf und streckt seinen Zeigefinger in Richtung Straße aus.
Als ich mich umdrehe, sehe ich Marcus bereits im Auto sitzen. Anscheinend hat er genug gesehen. Ich habe ein schlechtes Gewissen ihm gegenüber und beeile mich, zum Wagen zu kommen.
Als ich einsteige bemerke ich ein einzelnes Blütenblatt, das am Absatz meines rechtes Stiefels klebt. Ich spüre, wie mich eine Welle der Panik überflutet, bin völlig gelähmt von dem Anblick. Erst jetzt wird mir richtig bewusst, dass keine zehn Meter von mir entfernt ein echter, toter Mensch liegt.
Ich ziehe die Schuhe aus, lege sie auf den Rücksitz und beschließe, barfuss zur Redaktion zu fahren.
„Alles in Ordnung bei dir?“ Marcus klingt erstaunlich gelassen.
„Schon.“ Presse ich heraus und drehe den Rückspiegel dabei so, dass ich die Stiefel sehen kann.
„Und bei dir?“
„Ich habe Fotos gemacht.“

Rückblick / Buchempfehlung

Die Lesung am Donnerstag war spannend bis geht so.

Besonders die ersten drei Beiträge haben mir gut gefallen.
Die Endeckung des Abends: Michael Stavaric - Böse Spiele. Fazinierend war weniger der Inhalt (ich bin nicht einmal sicher, ob es eine Handlung gibt) vielmehr der Stil. Einfach unglaublich, was manche Menschen mit unserer Sprache machen können. Ein unbedingtes Muss für jeden, der sich für Literatur / Schreiben / Stil interessiert!

Donnerstag, 26. März 2009

Lesung (Abendplanung)

Miss Odem freut sich auf die heutige Lesung im Muffatwerk.

Mit dabei:
Etwas Kleines gut versiegeln - Svealena Kutschke
Änderungsschneiderei Los Milagros - Maria Cecilia Barbetta
Böse Spiele - Michael Stavaric
Illegal. Wir sind viele. Wir sind da - Björn Bicker
Die durchsichtigen Hände - Xaver Bayer
Becks letzter Sommer - Benedict Wells
und Tanja Dückers

und wer das Buchpaket abstaubt, ist ja wohl klar ☺

... und was das alles soll

wenn ich nicht tanze, schreibe ich. Hier entsteht jede Menge Buchstabenschrott.

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Erzangie - 14. Feb, 11:15
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deprifrei - 13. Feb, 19:25
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Ich frage mich, was eine angemessene Zeitspanne ist,...
deprifrei - 13. Feb, 19:22
nur homeshopping ist...
nur homeshopping ist besser :)
Spezialistin - 13. Feb, 19:16
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Sternenstaub - 13. Feb, 19:01

Wer hier klaut stirbt

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